„Wenn Sie so langsam denken, wie Sie sprechen, können wir Sie nicht gebrauchen“
Es war die letzte Abiturprüfung. Alles andere war bereits überwunden, keine Nachprüfungen standen an. Und dennoch wusste Alexander, dass er um die mündliche Prüfung nicht herumkommen würde. Die letzte große Sache, die ihn trotz perfekter Vorbereitung nervös machte. Etwas würde ihn nie loslassen. Der Grund seiner Selbstzweifel: Er stottert.
„Ich wusste, dass ich ruhig bleiben musste, weil ich sonst erst recht ins Stottern geraten würde. Ich ging durch die Tür und sah die drei Lehrer, vor denen ich meine Lösungen präsentieren musste. Vor denen ich eine halbe Stunde lang reden sollte, ohne Pause und alleine.“, erzählt Alexander. An dem Tag musste er es den Prüfern beweisen. „Im Kopf habe ich mir schon die Sätze formuliert, die ich sagen wollte. Ich dachte daran einfach das anzuwenden, was ich in meiner Therapie gelernt hatte“. Sein Lehrer lächelte nett und nickte ihm aufmunternd zu. „Die Nervosität blieb“, sagt er heute.
Die Zeit war um. Eine halbe Stunde lang hatte er sein Bestes gegeben. Er saß im Warteraum mit den anderen angehenden Abiturienten und blickte auf den tickenden Zeiger seiner Uhr. In einer halben Stunde würde er wissen, ob er es geschafft hatte.
„Stotternde wissen genau was sie sagen möchten“
Dass in Deutschland über 800.000 erwachsende Menschen stottern, ist den Wenigsten bewusst. Stottern beginnt meist ohne offensichtlichen Anlass im Alter zwischen 2 und 5 Jahren. Bei 5% aller Kinder entwickelt sich das Stottern. Von diesen Kindern sprechen insgesamt 4/5 bis zur Pubertät wieder flüssig. Es lässt sich bislang nicht vorhersagen, welche Kinder das Stottern wieder verlieren und bei welchen es bestehen bleibt. Bei Erwachsenen verliert sich das Stottern nur noch in seltenen Fällen vollständig. Etwa doppelt so viele Jungen wie Mädchen stottern.
Die Aufklärung zu diesem Thema hält sich in Grenzen. Man findet kaum Organisationen, die sich dafür einsetzen, dass in Schulen, Universitäten und bei Ausbildungsangeboten darüber informiert wird, wie sich Lehrer, Professoren, Ausbilder oder auch Mitschüler- und Mitstudierende zu verhalten haben. Denn genau das Verhalten der Mitmenschen beeinträchtigt Stotterer in ihrer sozialen Entwicklung und folglich auch in ihrer Schul- und Berufslaufbahn, in ihrem Werdegang.
„Jedes Stottern ist anders“, erläutert der Sprachtherapeut Dieter Schönhals. „Es gibt zum einen das sehr starke tonische Stottern, ein Block, aus dem man gar nicht mehr rauskommt, und zum anderen die etwas leichtere Form, das klonische Stottern, bei dem mehrere Silben wiederholt werden“. Es ist eine Unterbrechung des Redeflusses in Form von hörbaren oder stummen Blockaden und ist meistens mit übermäßiger Anstrengung beim Reden verbunden. Bei den verschiedenen Ausprägungen wird dies zusätzlich in auffälligen Verkrampfungen der Gesichtsmuskulatur oder in zusätzlichen Bewegungen von Kopf, Arm und Oberkörper sichtbar. Im Moment des Stotterns wissen Stotternde genau, was sie sagen möchten, sind aber nicht in der Lage, es störungsfrei rauszubringen.
Diese Situation beschreibt auch der 45 Jährige Michael. Er ist seit 1996 in einer Kölner Selbsthilfegruppe. Diese gab und gibt ihm Selbstbewusstsein. Er stottert seit seinem 5. Lebensjahr und erinnert sich nicht gerne an die Schulzeit zurück. Eigentlich war Michael ein guter Schüler. Er machte stets die Hausaufgaben, lernte für seine Klausuren und folgte aufmerksam dem Unterricht. Allerdings meldete er sich nicht freiwillig, weil er nicht vor den anderen Klassenkameraden reden wollte. Eines Tages wurde er von seinem Lehrer drangenommen und sollte seine Analyse vorlesen. „Mir stand der Schweiß auf der Stirn“, sagte Michael. Die Kinder aus seiner Klasse fingen bereits an zu stöhnen und riefen, dass sie keine Lust hätten so lange zu warten, bis er fertig gelesen hatte. „Das mussten sie auch gar nicht, denn ich bekam keinen Ton raus“. Nach diesem Erlebnis sagte Michael jedes Mal seinem Lehrer, dass er die Hausaufgaben vergessen hätte, wenn dieser ihn bat vorzulesen. „Irgendwann hab ich mir dann wirklich nicht mehr die Mühe gegeben. Das hat keinen Sinn mehr gemacht, also ließ ich es komplett sein“, sagt er heute. Jeder einzelne Schultag war wie ein Kampf mit der Zeit. Stets behielt er die Uhr im Blick und war erleichtert, wenn der Gong der Schulglocke erschien und er nicht im Unterricht drangenommen wurde. Ein ständiger Druck, dem er jeden Tag ausgesetzt war. In der siebten Klasse war es dann soweit: Er musste vom Gymnasium auf die Realschule wechseln.
Die Angst vor dem Stottern kann das ganze Leben beherrschen
In dem von der Bundesvereinigung Stotterer und Selbsthilfe e.V. (BVSS) rausgegebenen Katalog zum Thema „Was Sie schon immer zum Thema Stottern wissen wollten“ wird erklärt, dass es normal ist, dass Stotterer Situationen vermeiden, bei denen sie fürchten, stottern zu müssen. Die Angst vor dem Stottern und der Wunsch, es zu vermeiden, können das ganze Leben beherrschen. Ausbildung, Beruf und Freizeitaktivitäten werden eventuell nicht nach den tatsächlichen Wünschen ausgewählt, sondern danach, wenig sprechen zu müssen. Negative Reaktionen der Mitmenschen wie Hohn und Ablehnung, aber auch Mitleid oder Verlegenheit können dazu beitragen, dass sich die stotternde Person zurückzieht.
Schönhals fügt dem noch hinzu, dass Kinder mit Eltern, die das Stottern als negativ darstellen und ihre Kinder nicht unterstützen, kaum Chancen haben, aus diesem negativen Pool auszubrechen. „Wenn ein Kind zusätzlich noch dick ist, dann wird da richtig drauf rumgeprügelt“, erklärt er. Generell würde das Stottern meist erst zu einem Problem, wenn die Kinder in die Schule kommen, da Kinder in dieser Phase besonders gehässig sein können. Er betont, dass Stotterer lernen müssen, mit ihrem Stottern umzugehen, dieses zu akzeptieren und selbstbewusst nach außen hin aufzutreten. „Für Stotterer ist es ganz wichtig, dass sie ihr Stottern nicht als Makel ansehen, sondern als Teil ihrer Selbst“, erklärt er. Auch die Eltern sowie das Umfeld müssen lernen, damit umzugehen. Wichtig dabei sei, dass man die stotternde Person ausreden lässt und nicht versucht ihr zu helfen, indem man ihre Sätze zu Ende führt.
„Ich saß immer noch in dem Raum und wartete auf mein Ergebnis. Der Schulleiter betrat das Zimmer mit mehreren Zetteln, auf denen die Noten der Prüfungen draufstanden. Mein Herz pochte und ich konnte nicht mehr warten“, berichtet Alex. Die Namen wurden aufgerufen und nach und nach sollten die Schüler rausgehen, um ihre Note zu erfahren. Einige kamen mit fröhlichen Gesichtern rein, andere mit Enttäuschten. Nun war er an der Reihe. Er stand vor seinem Direktor und lauschte gebannt seinen Worten. „Ich hatte eine 1+. Ich konnte es nicht glauben, auch heute noch nicht“. Das brachte ihm Selbstbewusstsein und Zuversicht. Zuversicht eine Ausbildung zu finden, in der auch Kommunikation eine Rolle spielt.
Zwei Monate später wurde er zu einem Vorstellungsgespräch für eine Ausbildung zum Handelsfachwirt eingeladen. Bereits in der Schulzeit hatte Alexander ein Gespräch für eine Ausbildung zum Einzelkaufmann. „Man sagte zu mir `Wenn Sie so langsam denken, wie Sie sprechen, können wir Sie hier nicht gebrauchen‘. Ich hoffte so sehr, dass an dem Tag alles funktioniert“. Alex erklärte zu Beginn des Vorstellungsgesprächs, dass er Stotterer sei. Die Arbeitgeber reagierten daraufhin mit Akzeptanz und äußerten, dass dies kein Problem sei. Alles lief wie am Schnürchen. Gegen Ende sagten sie, dass sie sich bei ihm innerhalb der nächsten zwei Wochen melden würden. Was wäre das für ein Erfolg! Dann kam der Brief. „Ich erhielt eine Absage wegen fehlender ‚kommunikativer Fähigkeiten‘“, erzählt Alexander. Das Herz begann zu rasen. Es war wie damals, als die Klassenkameraden bei seinem Vortrag gelacht hatten. Er wurde nervös. Es fühlte sich unfair an, für einen „Fehler“ abgestempelt zu werden, für den er nichts konnte. Bei seinem nächsten Vorstellungsgespräch verlief alles ganz gut. Gleich am selben Tag erfuhr er, ob er den Ausbildungsvertrag unterschreiben konnte. „Ich wurde nervös und fühlte mich zurückversetzt in den Raum, in dem ich auf meine Note wartete“, so Alex. Er hatte den Ausbildungsplatz bekommen. „Ich habe mich so gefreut. Endlich hatte ich mein Ziel erreicht!“.
Man muss sich als Stotterer gegen die Reaktionen Anderer abhärten
„Man sollte immer das machen, was man gerne machen möchte“, erklärt Sprachtherapeut Schönhals. Es sei zwar schwierig in kommunikativen Berufen unterzukommen, allerdings müsse man sich als Stotterer gegen die Reaktionen der Anderen abhärten.
Projektreferentin Martina el Meskioui ist die zentrale Ansprechpartnerin für das Thema „Stottern und Beruf“ bei der Bundesvereinigung Stotterer und Selbsthilfe e.V. Sie erklärt, dass sich Stotternde bei Fragen und Problemen im Beruf an die BVSS wenden können. Dort wird versucht, mit den Betroffenen individuelle Lösungen zu finden. Sie werden dann an regionale Ansprechpartner vermittelt oder es wird versucht, einen ebenfalls betroffenen Austauschpartner innerhalb der Mitglieder der verschiedenen Selbsthilfegruppen zu finden, der schon einmal ähnliche Erfahrungen gemacht hat und zum Austausch bereit ist. Ansonsten kämen weitere Anlaufstellen wie der Betriebs- oder Personalrat, Behindertenbeauftragte im Unternehmen oder auch die Antidiskriminierungsstelle des Bundes in Frage.
Referentin Angela Fritz von der Antidiskriminierungsstelle erklärt, dass Arbeitgeber Bewerberinnen und Bewerber nicht auf Grund einer Behinderung benachteiligen dürfen. Ob sich Menschen mit Sprechstörungen auf das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz berufen können, hänge davon ab, ob die Einschränkungen durch das Stottern ein bestimmtes Ausmaß erreicht haben. Es wurden bisher nur wenige Anfragen (ca. 20) von Menschen mit Sprechstörungen an die Antidiskriminierungsstelle herangetragen. Davon waren es nur etwa 10 Fälle, die eine Ablehnung im Bewerbungsverfahren betrafen, so dass „wir keine repräsentative Aussage über die Auswirkungen von Sprechstörungen im Bewerbungsverfahren machen können“, erklärt Fritz.
Michael ist bereits seit langem berufstätig als Mechatroniker. Vor sechs Jahren bestand dann die Möglichkeit eine Führungsposition zu übernehmen. Er wäre derjenige gewesen, der diese Position hätte erhalten müssen. Er war am längsten in der Firma und hatte bereits die Aufgaben seines damaligen Chefs für mehrere Monate übernommen und ihn vertreten. Alles sprach dafür, dass er für die neue Stelle eingesetzt würde. Doch dann entschied man sich gegen ihn. „Durch mein angeblich unsicheres Auftreten wegen des Stotterns, würde ich auch die Kunden verunsichern, die dann wohl zu einer anderen Firma wechseln würden“, erzählt Michael.
Verschiedene Therapieformen können das Stottern minimieren
Es gibt zahlreiche Therapieformen für Stotternde bei denen unterschiedliche Formen angeboten werden. Es werden dabei zwei Hauptformen unterschieden: Zum einen das sogenannte „Fluency Shaping“, bei dem der Stotternde lernt, auf eine neue Art zu sprechen. Dabei wird die Stimme weich eingesetzt, die Vokale werden gedehnt, Wörter werden verbunden und die Atmung wird kontrolliert. Das Sprechen wird dabei zunächst stark entfremdet und dann nach und nach einem natürlich klingenden Sprechen angeglichen. Die zweite Form, die Modifikation des Stotterns, „hat das Ziel, besser auf das Auftreten von Stottern reagieren zu lernen“, erklärt Martina el Meskioui. Dabei werden Sprechtechniken erlernt, die man bei Wörtern, bei denen Stottern erwartet wird, anwendet. Hierdurch kann das Stottern entweder verhindert oder kontrolliert und leichter gemacht werden. Voraussetzung dafür ist, dass zunächst Ängste und negative Einstellungen gegenüber dem Stottern abgebaut werden. Bereits hierdurch verringert sich bei vielen das Stottern. Sprachtherapeut Schönhals fügt dem hinzu, dass sich diese Therapie mit der Konfrontation anderer Menschen auseinandersetzt, damit sich die Ängste des Stotternden auf Reaktionen Außenstehender reduzieren.
Eine völlige Heilung des Stotterns sei jedoch nicht möglich. Ausschließlich die Mitbewegungen des Körpers und die Verkrampfungen im Gesicht können durch eine Therapie komplett verschwinden. Wenn eine Therapie bereits in jungen Jahren, im Grundschulalter, vollzogen wird, bestehe die Möglichkeit, dass das Stottern nicht mehr auftrete. Nach dieser Altersphase bestehe das Stottern weiterhin, kann jedoch durch Therapieformen minimiert werden, so, dass Außenstehende kaum bemerken, dass eine Sprachstörung vorhanden ist.
Aufklärungsversuche zum Thema Stottern scheitern
Sprachtherapeut Schönhals und Martina el Meskioui kritisieren, dass die Gesellschaft kaum über das Thema Stottern aufgeklärt ist. Es gäbe zwar Aufklärungsversuche bei beispielsweise Stern TV, doch „die laufen immer total schief“, so Schönhals. Stottern wird dort wie eine Sensation dargestellt und es wird behauptet, dass es eine Therapieform gibt, die Stotterer heilt. Vielmehr soll die Aufklärung dahin laufen, dass es verschiedene Therapieformen und Atemtechniken zur Behandlung gibt, eine völlige Heilung jedoch nicht möglich ist. Auch in den Schulen soll mehr Aufklärung stattfinden, „immerhin bekommen ADHS- Kranke einen Betreuungslehrer in der Schule. Stotterer werden meist noch nicht mal darüber informiert, dass sie eine Verlängerung der Zeit in der mündlichen Abiturprüfung beantragen können“, so Schönhals.
Hilfe bietet das seit 1974 immer größer werdende Netz von Selbsthilfegruppen. Die BVSS gilt als bundesweit einzige unabhängige Informations- und Beratungsstelle zum Thema Stottern. Sie setzen sich für den Abbau von Diskriminierung, Prävention und schulische Förderung ein und verfügen über ein bundesweites Therapeutenverzeichnis. Darüber hinaus gründen sie Stotterer-Selbsthilfegruppen und geben Seminare für Betroffene und Angehörige.
Was hat sich verändert?
Alexander ist heute in seiner Ausbildung angekommen. Er ist 19 Jahre und angehender IT-Systemelektroniker. Neben der Entwicklung von elektronischen Komponenten, Geräten und Systemen und anderer Aufgaben, stellt ein großer Bereich seiner Ausbildung den Kundenkontakt dar. Täglich wickelt er Kundenaufträge per Telefon oder Videokonferenzen ab. Und das als Stotterer! Sein Chef hat ihm bereits nach einem halben Jahr angeboten, ein duales Studium zu beginnen.
Michael ist immer noch in derselben Firma, angestellt als Mechatroniker. In dem Maße, in dem er Mut fand, über sein Stottern in der Selbsthilfegruppe zu sprechen, merkte er, wie viele andere Stotterer dieselben Probleme haben wie er. Mit der Gruppe ist er gewachsen und selbstbewusster in Beruf und Alltag geworden. Wenn heute Menschen über ihn lachen, lacht er auch. Er akzeptiert das Stottern als Teil seiner selbst und hat gelernt damit zu leben.